Ich sitze in meinem kleinen Arbeitszimmer, wo die Luft schwer ist von Abgasen vor meinem Fenster und dem dumpfen Geruch der Stadt. Mein Schreibtisch ist ein Chaos aus Notizen, zerknitterten Zetteln und halb ausgetrunkenen Kaffeetassen. Auf dem Laptopbildschirm leuchtet das Expose meiner nie vollendeten Masterarbeit in der Zukunftsforschung: Die Rolle der Künstlichen Intelligenz in der Arbeitswelt der Digitalwirtschaft - Chancen, Herausforderungen, Gestaltungsperspektiven und Szenarien bis 2030. Einst klang der Titel nach Hoffnung, nach Möglichkeit. Jetzt fühlt er sich an wie ein Hohn.
Ich bin 57, das Leben hat mich vorzeitig ausgelaugt, mein Asthma, das mich seit meiner Kindheit begleitet, bereitet mir zunehmend Schwierigkeiten. Meine Karriere als Akademikern war schon vor 25 Jahren beendet, meine Zukunft als Zukunftsforscherin hatte ich mir anders vorgestellt. Nach meinen Studien in Politik, BWL, Psychologie und Jura der 90er und 00er Jahre schrieb ich mich vor drei Jahren berufsbegleitend für Zukunftsforschung an der FU Berlin ein. Ich dachte immer noch, ich könnte die Welt verbessern. Doch je tiefer ich in die Materie eintauchte, desto klarer wurde mir: Meine Analysen, meine Szenarien, meine mühsam erarbeiteten Prognosen würden in den Schubladen von Konzernen und Ministerien verstauben. Kunden wollen keine Wahrheit, sie wollen Bestätigung. Sie wollen bunte PowerPoint-Präsentationen, die ihre vorgefertigten Meinungen spiegeln, keine unbequemen Wahrheiten über Klimakrise, soziale Ungleichheit oder geopolitische Verwerfungen.
Ich lehne mich zurück. Durch das Fenster sehe ich die graue Fassade des gegenüberliegenden Hauses, wo ein Mann mit einem Bier in der Hand auf seinem Balkon steht und in die Leere starrt. „Das Leben ist scheiße und bleibt scheiße“, murmle ich vor mich hin, ein Mantra, das sich in den letzten Monaten in meinem Kopf festgesetzt hat.
Früher war ich nicht so. Es gab eine Zeit, in der ich an Veränderung glaubte. Nach meinem ersten Studium arbeitete ich an verschiedenen Universitäten. Ich war jung, voller Elan, überzeugt, dass meine Arbeit etwas bewirken könnte. Doch die Realität holte mich ein: Projekte wurden wegen fehlender Fördermittel eingestellt, Politiker nickten höflich bei Präsentationen und vergaßen meine Vorschläge, sobald die Tür hinter ihnen zufiel. Schließlich wurde meine Doktorarbeit, an der ich fast 5 Jahre mühsam gefeilt hatte, zensiert. Irgendwann landete ich in Kreuzberg, in einem Wohnungsbordell, Treffpunkt für verlorene Seelen. Dort verkaufte ich Sex, hörte den Geschichten von Menschen zu, die genauso desillusioniert waren wie ich, und begann, das Leben durch eine andere Linse zu sehen.
Mein Nebenjob in diversen Wohnungsbordellen in Berlin war kein Zufall. Es war ein bewusster Schritt, ein Versuch, der akademischen Blase zu entkommen, die mich so müde gemacht hatte. Der Puff war rau, echt, ein Ort, an dem niemand vorgab, die Welt zu retten. Dort lernte ich Menschen kennen, deren Leben von prekären Jobs, kaputten Beziehungen und einem ständigen Kampf gegen das System geprägt war. Es war, als hätte ich die Theorie meiner Studien endlich in der Praxis gesehen: die soziale Ungleichheit, die Machtstrukturen, die Hoffnungslosigkeit.
Als ich mich Jahrzehnte später für das berufsbegleitende Studium der Zukunftsforschung entschied, hoffte ich, einen Weg zu finden, diese Realität zu verändern. Ich war gut – verdammt gut sogar. Meine Prüfungen bestand ich mit Bestnoten, meine Analysen wurden von Professoren gelobt, und das Expose für meine Masterarbeit war ein Meisterwerk an Präzision und Tiefe. Doch je näher ich dem Abschluss kam, desto mehr wuchs die Erkenntnis: Meine Arbeit würde nichts ändern. Die Menschen, die Entscheidungen trafen, wollten keine komplexen Szenarien, keine kritischen Analysen. Sie wollten einfache Lösungen, die in ihre Einfalt passten. Und ich konnte das Spiel nicht mitspielen.
Es war ein Abend im Oktober, als ich beschloss, meine Masterarbeit nicht zu schreiben. Ich saß in der Bibliothek der FU, umgeben von Studenten, die in ihre Laptops vertieft waren, und starrte auf das Expose. Der Titel schien mich anzuklagen, als würde er mich fragen, warum ich überhaupt angefangen hatte. Ich dachte an meine Kunden, die ich in den letzten Jahren beraten hatte – Unternehmen, die nach „innovativen Strategien“ suchten, aber nur hörten, was in ihre Budgetpläne passte. Ich dachte an die Politiker, die meine Berichte mit einem Lächeln entgegennahmen und sie dann ignorierten. Und ich dachte an das Verfassungsgericht, das bald über das Existenzminimum entscheiden würde. Ich wettete mit mir selbst, dass sie es kürzen würden, so wie sie jede Verantwortung Deutschlands für die Kriege, die von Ramstein aus gesteuert werden, von sich wiesen. Es war ein System, das auf Verleugnung gebaut war, und ich wollte nicht länger Teil davon sein.
Ich klappte den Laptop zu, stand auf und verließ die Bibliothek. Der kalte Wind schlug mir ins Gesicht, als ich über den Campus lief. Meine Schritte hallten auf dem Pflaster, und für einen Moment fühlte ich mich frei. Aber die Freiheit war trügerisch. Ohne den Masterabschluss, ohne einen klaren Plan, war ich wieder am Anfang: eine Frau mit drei Studiengängen, einer Handvoll gescheiterter Hoffnungen und einer tiefen Überzeugung, dass die Zukunft nichts Gutes bereithält.
Die Wochen vergingen, und ich zog mich immer mehr zurück. Ich kündigte meinen Job, wo meine Arbeit nicht gewertschätzt wurde. Ich begann, lange Spaziergänge durch Berlin zu machen. Ich beobachtete die Menschen, die an mir vorbeizogen: die hippen Start-up-Gründer mit ihren teuren Kaffeebechern, die Rentner, die in den Supermärkten nach den billigsten Angeboten suchten, die Kinder, die auf den Spielplätzen lachten, ohne zu ahnen, welche Welt auf sie wartete. Überall sah ich die Brüche, die Ungleichheiten, die kleinen und großen Ungerechtigkeiten, die das Leben prägten.
Eines Tages, als ich am Landwehrkanal entlanglief, setzte ich mich auf eine Bank und zog ein Notizbuch aus meiner Tasche. Ich hatte es schon lange nicht mehr benutzt, aber etwas in mir drängte mich, zu schreiben. Nicht für Kunden, nicht für Professoren, sondern für mich selbst. Ich begann, meine Gedanken aufzuschreiben, ungefiltert, roh:
„Die Zukunft ist ein Schatten, der sich über die Gegenwart legt. Ich analysiere, ich prognostiziere, ich male Szenarien, als könnte ich die Welt kontrollieren. Aber die Wahrheit ist, dass die Zukunft nicht mir gehört. Sie gehört denen, die die Macht haben, Entscheidungen zu treffen, und die haben kein Interesse an Veränderung. Sie wollen Stabilität, Profit, Kontrolle. Und ich, die ich die Schatten sehe, die ich die Brüche erkenne, bin dazu verdammt, zuzuschauen, wie alles bleibt, wie es ist.“
Ich hielt inne, die Kälte der Bank kroch durch meine Jeans. Der Kanal floss träge vor mir, und in der Ferne hörte ich das Lachen von Studenten, die aus einer Kneipe kamen. Ich beneidete sie um ihre Leichtigkeit, ihre Unbeschwertheit. Aber ich wusste, dass auch sie irgendwann aufwachen würden, so wie ich aufgewacht war.
Monate später fand ich mich in einer kleinen Buchhandlung in Prenzlauer Berg wieder. Ich war zufällig hineingestolpert, auf der Suche nach einem Ort, an dem ich mich für einen Moment aufwärmen konnte. Die Buchhandlung war vollgestopft mit Regalen, die Wände mit alten Plakaten tapeziert. Eine Lesung war angekündigt, ein unbekannter Autor, der über „Zukunftsvisionen in der Krise“ sprach. Ich setzte mich in die letzte Reihe, mehr aus Neugierde als aus Überzeugung.
Der Autor war ein älterer Mann, mit grauem Bart und einer ruhigen, fast hypnotischen Stimme. Er sprach nicht von großen Lösungen oder utopischen Szenarien. Stattdessen erzählte er von kleinen Veränderungen, von Gemeinschaften, die sich zusammenschlossen, von Menschen, die trotz der Dunkelheit weitermachten. „Die Zukunft“, sagte er, „ist nicht etwas, das wir voraussagen können. Sie ist etwas, das wir gestalten, Schritt für Schritt, in den kleinen Momenten, in denen wir uns entscheiden, nicht aufzugeben.“
Ich spürte einen Kloß im Hals. Seine Worte waren keine Offenbarung, keine große Wahrheit, die ich nicht schon kannte. Aber sie waren ehrlich, und das war mehr, als ich in den letzten Jahren gehört hatte. Nach der Lesung blieb ich noch eine Weile, blätterte in den Büchern, die auf einem Tisch ausgelegt waren. Ich kaufte eines, einen schmalen Band mit Essays über Widerstand und Hoffnung. Es war kein Zukunftsoptimismus, der mich dazu brachte, es zu kaufen. Es war etwas anderes, etwas, das ich nicht benennen konnte.
Zurück in meiner Wohnung öffnete ich das Buch und begann zu lesen. Die Essays waren nicht perfekt, nicht weltverändernd, aber sie waren echt. Sie sprachen von Menschen, die trotz allem weitermachten, die in kleinen Gemeinschaften, in Nachbarschaften, in Initiativen etwas bewegten. Es war kein großer Plan, keine Revolution. Es war das, was der Autor „das Machbare“ genannt hatte.
Ich legte das Buch beiseite und blickte auf meinen Schreibtisch, auf die Notizen, die ich in den letzten Monaten gemacht hatte. Vielleicht war es an der Zeit, wieder zu schreiben. Nicht für Kunden, nicht für Professoren, sondern für mich selbst in einem Substack Newsletter. Vielleicht war es an der Zeit, die Schatten der Zukunft nicht nur zu sehen, sondern sie zu benennen, sie aufzuschreiben, sie mit anderen zu teilen.
Ich öffnete meinen Laptop, erstellte ein neues Dokument und begann zu tippen. Die Worte kamen langsam, zögerlich, aber sie kamen. Es war kein Expose, keine Masterarbeit, kein Bericht für einen Kunden. Es war ein Anfang – der Anfang von etwas, das vielleicht niemand lesen würde, das aber für mich einen Unterschied machte.
„Das Leben ist scheiße“, schrieb ich, „aber manchmal, in den kleinen Momenten, wenn ich mich entscheide, nicht aufzugeben, wird es ein bisschen weniger scheiße.“
Ich lehnte mich zurück, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Es war kein Happy End, kein großer Wandel. Aber es war ein Schritt. Und für den Moment war das genug.